LINER-NOTES / PIANO APHORISMS (2022)
Ich kenne ein Zitat, ich glaube von Claude Debussy, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Geschichte wirklich stimmt. Nach dem Besuch einer Aufführung seiner eigenen Musik soll er sinngemäß gesagt haben: „Nicht schlecht, fast so, als wäre die Musik gar nicht notiert, sondern gerade erst erfunden worden.“ Nur Weniges fängt das Verhältnis aus Komponieren und Spielen so sehr ein wie dieser Gedanke. Das Klavierstück „Des pas sur la neige“ aus Debussys „Préludes“ ist ein berühmtes Beispiel für etwas, das zwar durchkomponiert wurde, dabei aber völlig momentan wirken kann. Die „Piano Aphorisms“ sind nicht unverwandt mit diesem Werk, das ich sehr liebe.
Es wird mir kaum gelingen, Erklärungen für die vorliegenden Aphorismen zu finden. Aber ich habe noch ein paar flüchtige Erinnerungen an ihre Entstehung und vielleicht ist es sinnvoll sie festzuhalten: Ich hatte einen zerstreuten und unübersichtlichen Sommer hinter mir, und der sich ankündigende Winter war eine gute Gelegenheit, mich zurückzuziehen und mich mit einer neuen Idee zu beschäftigen, für die eine gewisse Entkopplung nötig war. Ich besuchte also ein Geschäft für Abenteuerzubehör und kaufte mir eine Luftmatratze und einen Schlafsack. Dann schloss ich mich in mein Studio ein und entschied mich, diesen schwarzen, karg ausgeleuchteten, hermetisch abgeschotteten Kubus ohne Fenster erst einmal nicht mehr zu verlassen. Es waren einige Monate, zwei oder drei, die ich so verbrachte. Ich arbeitete immer bis früh in den Morgen hinein, legte mich dann für ein paar Stunden unter den Flügel und hörte mir tagsüber die Ergebnisse der letzten Nacht an.
Ein Instrument ist wie ein Mensch. Ein Flügel ist kein passives Gegenüber, das bloß seinen Dienst tut. Im Gegenteil. Er fordert, macht Ärger, schenkt und entzieht Liebe, er macht Dinge mit sich selbst aus, im Verborgenen, aber er braucht auch die offene Auseinandersetzung. Seine Stimmung ist wechselhaft, er ist zerbrechlich und gefestigt zugleich und sein ganzes Dasein ist vom Jetzt durchsetzt. Auf jede Einwirkung reagiert er mit seinen Federn und Schrauben, mit Dehnung und Entspannung im niemals ruhenden Holz, mit seinen Saiten, die grenzenlos offen sind für alles Neue.
Wenn so ein Flügel zum Himmelbett wird, weil sich jemand zum Schlafen unter ihn legt, ändert sich die Perspektive auf dieses Geschöpf. Es ist eigentlich nicht vorgesehen, einen Flügel so nackt zu betrachten. Das verbaute Holz auf der Unterseite hat keine lackierten, glänzenden Oberflächen, keine goldenen Gravuren, keine Verzierungen. Ein unmaskiertes Skelett. Wie die schmucklosen, schroffen Kellergänge der Hinterbühne eines wunderschönen Konzertsaals. Ist ein Raum ebenerdig und man liegt mit dem Rücken auf dem Boden, und ein paar Zentimeter weiter unten berührt das Fundament die Außenschale unseres Planeten, und schaut man dann nach oben, erblickt man keine funkelnden Sterne, nur das rohe Gerüst eines schützenden, aber auch schweigenden Titanen – ich kann zumindest sagen, das alles ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen.
Das Schreiben und Aufnehmen der „Piano Aphorisms“ hatte etwas Zwischenweltliches. Am Ende kam es zu einer Musik, die ich heute kaum noch entschlüsseln kann. Vier Sätze sind es geworden, in fließenden Übergängen, eine Sonate im weitesten Sinne. Vielleicht in h-Lokrisch, vielleicht in e-Moll, schwer zu sagen. Ein im Ganzen ununterbrochenes Stück von vierunddreißig Minuten Länge jedenfalls. Ein Album, komponiert und gespielt zwischen wach und dämmernd. MK
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Das neue Album „Piano Aphorisms“ ist am 29. April 2022 bei MPS erschienen.
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Presse-Information „Onomatopoetika“ (2020)
Presse-Information „My First Piano“ (2018)
Presse-Information „I Love You“ (2015)
Presse-Information „Kill Your Babies“ (2012)
LINER NOTES / PIANO APHORISMS (2022)
There is a story about Claude Debussy, but I’m not sure if it’s true. After attending a recital of his own music, he was reported to have said, “Not bad, almost as if the music hadn’t been scored at all, but had simply been created on the spot.” This quote perfectly captures the gray area between composition and performance.
Take for example DES PAS SURE LA NEIGE, a piano piece from Debussy’s Préludes—a precisely composed miniature that nonetheless evokes spontaneity as it is being played and heard. I love this particular prélude very much and as you listen to the Piano Aphorisms, I hope you will hear the traces of its influence.
Explanations for these aphorisms are hard for me to find. But I do have a few fleeting memories of their genesis and maybe it’s useful to share them with you. During the summer things were scattered and confused. The approach of winter offered an opportunity to withdraw and occupy myself with a new idea that had been bubbling under the surface.
I visited an adventure supply shop and bought an air mattress and a sleeping bag. I then locked myself in my studio and decided not to leave this windowless, sparsely lit, hermetically sealed black cube for a while. I spent something like two or three months there. I would work until early in the morning, then sleep under the grand piano for a few hours. The next day I would examine the previous night’s results with fresh ears.
A piano is not a docile partner that merely does its duty. I believe an instrument is like a human being. It demands attention and it causes trouble. It gives and withdraws love. It secretly comes to its own conclusions. Its mood is mercurial, just like its tuning, brittle and steadfast at the same time. Its entire existence is permeated by the moment—always awaiting something new.
When a grand piano becomes a four-poster bed (because one has decided to lie under it to sleep), the aura of this creature changes. It’s not really supposed to be seen from this perspective—naked and exposed. The wood on the underside of the instrument is not lacquered or shiny. It has no golden engravings, no ornamentations. Like an unmasked skeleton. Like the unadorned, craggy, subterranean backstage corridors of a beautiful concert hall.
Lying on my back in a ground floor studio, I could feel the foundation touching the outer shell of our planet a few centimeters below me. Looking up, there was no starry sky, only the rough yet soothing frame of a silent titan. In these moments the Piano Aphorisms may have truly been born.
Writing and recording this music felt otherwordly. I don’t think I’m able to decipher it today. Four movements, with flowing transitions, a sonata in the broadest sense. Maybe in B Locrian, maybe in E Minor, hard to say. At any rate, an uninterrupted piece of 34 minutes in length that lives in the gray area between composition and performance. MK
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The new album PIANO APHORISMS was released on April 29, 2022 on MPS.
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Press Information ONOMATOPOETIKA (2020)
Press Information MY FIRST PIANO (2018)
Press Information I LOVE YOU (2015)
Press Information KILL YOUR BABIES (2012)